Um sich im Dschungel der weltanschaulichen Gruppen und religiösen Gemeinschaften der Gegenwart zurechtzufinden, ist es immer wichtiger, einen eigenen begründeten Standpunkt zu finden. Oft wird aber im Alltagsgebrauch der Begriff „Sekte“ sehr schnell und ohne Unterscheidung als negatives Etikett für alle Gruppen von Menschen benutzt, deren Meinungen und Lehren auffällig oder sonderbar erscheinen. Ein solcher pauschaler Gebrauch des Sektenbegriffs ist fragwürdig und manchmal diffamierend. Was ist dann aber unter einer „Sekte“ zu verstehen? Hier stößt man auf das Problem, dass der Begriff mehrdeutig ist, denn der Sektenbegriff hat einen theologischen und einen ethischen Aspekt.
Als traditioneller theologischer Begriff leitet sich das Wort „Sekte“ vom lateinischen „sequi“ (folgen, nachfolgen) oder „secta“ für Gefolgschaft, aber auch von „secare“ (trennen, abschneiden) her und bezeichnete damit im ursprünglichen Sinn eine christliche Gruppe, die sich von ihrer Mutterreligion getrennt hat, um ihrer eigenen Vorstellung von religiöser Wahrheit zu folgen. Diesen Vorgang der Abspaltung um der religiösen Wahrheit willen hat es in der Geschichte aller Religionsgemeinschaften immer wieder gegeben. Insofern könnte man auch vom Christentum sagen, dass es ursprünglich aus einer Sekte hervorgegangen ist, denn die ersten Christen waren Juden, die in Jesus von Nazareth den lange erwarteten Messias erkannten und infolge dieser fundamentalen Wahrheit mit der etablierten Religion brechen mussten. Aus der Sicht der Ursprungsreligion bedeutet eine Sekte immer eine Bedrohung für ihre Existenz, weil Abtrünnige, die sich von gemeinsamen Glaubensinhalten abwenden, immer auch andere mit sich ziehen. Schon im zweiten Jahrhundert nach Christus meinte das Wort „Sekte“ daher eine klare Verurteilung von Irrgläubigen.
Heute sind es die christlichen Kirchen, die sich als etablierte Institutionen mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen christlicher Sondergemeinschaften auseinandersetzen müssen, um sich theologisch zu positionieren und sich letztlich auch abzugrenzen, da wo es nötig ist, um die Identität des Glaubensgutes zu wahren.
In einer Gesellschaft, die durch das Zusammenleben von Menschen aus verschiedensten Kulturen, Religionen und Weltanschauungen geprägt ist, leiten sich Überzeugungen und Grundwerte, mit denen alle Mitglieder weitgehend übereinstimmen nicht mehr primär aus der Religion her, sondern aus einem Pool von ethischen, humanistischen Werten, die im Grundgesetz unseres Staates festgeschrieben sind (GG Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“). Dieser Humanismus der staatlichen Verfassung ist der Kerngedanke, auf dem moderne Weltanschauungsarbeit fußt, denn aus ihm leitet sich ab, wie menschlich mit Menschen umzugehen ist und wie ein gutes Leben für einen Menschen aussehen sollte. Begriffe wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Selbstentfaltung bilden daher den zentralen Maßstab, an dem auch das Handeln einer Gruppe zu beurteilen ist, ob es akzeptabel ist oder nicht.
Dieser ethische oder säkulare Sektenbegriff richtet sein Augenmerk nicht auf die weltanschauliche Lehre einer Gruppe, denn im Zuge der staatlich garantierten Religionsfreiheit (GG Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“) hat jeder Mensch durchaus das Recht, auch den abstrusesten Vorstellungen anzuhängen. Beurteilt wird eine Gruppe vielmehr nach ihrer Konfliktträchtigkeit. Diese liegt vor, wenn durch die Zugehörigkeit zur Gruppe viele Konflikte im familiären und gesellschaftlichen Umfeld des Mitglieds entstehen, Überzeugungen fanatisch vertreten werden und Kritik bestraft wird, wenn Abhängigkeit entsteht, weil die Gruppe sich stark abschottet nach außen und Kontaktabbruch zu allen Andersdenkenden fordert, oder wenn die Glaubensinhalte eine radikale geschlossene Gegenwelt schaffen, die der Lebensweise einer offenen, pluralistischen Gesellschaft entgegenstehen.
Beide, die ethische und die theologische Facette des Sektenbegriffs sind in der Praxis unserer Beratungsarbeit täglich relevant, wenn die Ratsuchenden fragen: Ist xy eine Sekte und ist sie gefährlich und was sagt die katholische Kirche dazu? So ergibt sich aus den Leitlinien heutiger Weltanschauungsarbeit ein Spannungsfeld, das der Religionsfreiheit und dem daraus folgenden Gebot zur Toleranz auf der einen Seite und dem Gefährdungspotential durch weltanschauliche Extremgruppen auf der anderen Seite Rechnung tragen muss.