Neocharismatisches Christentum

Die Verbreitung der weltweiten Pfingstbewegung in der Ökumene christlicher Kirchen und Konfessionen ist groß, und sie wird stetig größer. Von daher sollten pfingstliche und charismatische Frömmigkeit und Theologie nicht grundsätzlich kritisch gesehen werden. Allerdings muss die gegenseitige Anerkennung von Glaube und Leben zwischen den Kirchen in der Arbeitsgemeinschaft chrtistlicher Kirchen (ACK) und den pfingstlich- charismatischen Gemeinschaften vor Ort von beiden Seiten erfolgen, sie kann nicht einseitig sein. Gegenseitige Anerkennung erfordert die Fähigkeit zur kritischen Selbstwahrnehmung und zur Relativierung von Unterschieden auf beiden Seiten. Sie erfordert die Fähigkeit, innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu unterscheiden, welche Positionen und Praktiken dem gemeinsamen christlichen Zeugnis dienen, welche der Zusammenarbeit im Weg stehen und welche sogar vom Kern des christlichen Glaubens wegführen könnten.

Problemanzeigen

Im Folgenden werden einige problematische Punkte skizziert, die sich aus einer neocharimatischen und evangelikalen Frömmigkeit ergeben können (zitiert nach "Der Geist macht lebendig. Theologische und pastorale Grundlagen der Charismatischen Erneuerung in der Katholisch

Überbetonung der Gefühle

Da geistliche Erfahrungen auch den emotionalen Bereich des Menschen erfassen, kann es zu einer Überbetonung der Gefühle kommen, ehe man ein ausgewogenes Verhältnis der seelischen Grundkräfte gefunden hat.40 Einer echten Erfahrung des Geistes kann eine Versuchung folgen (vgl. Lk 4,1 f), die den ursprünglichen Impuls verfälscht; einer inneren Hochstimmung aber, die mit Geist-Erfahrung verwechselt wird, folgt vielleicht ein seelisches Tief. Bei unausgeglichenen Personen können seelische Störungen die Folge sein, die manche wiederum für eine „geistliche Trockenheit“ halten. Wo man versucht, geistliche Erlebnisse mittels eines enthusiastischen – das heißt nicht mehr in der Wirklichkeit und der Wahrheit wurzelnden – Frömmigkeitsstils zu erzwingen, können hysterische Erscheinungsformen oder bei ausbleibender Erfahrung Resignation auftreten. Entscheidend bleibt das tägliche christliche Leben in Einfachheit und Demut.

Falsche Unmittelbarkeit

Sie beachtet nicht, daß die Einwirkungen Gottes in ihrer konkreten Gestalt immer durch die Eigenart des Empfängers mitbestimmt und insofern „vermittelt“ sind.41 Außerdem bedenkt sie nicht genügend, daß Gott in seiner Zuwendung sich auch der Gemeinschaft der Kirche, konkreter Menschen, Ereignisse oder Lebensumstände bedient. Eine falsche Unmittelbarkeit bringt auch die Gefahr einer Dämonisierung alles dessen mit sich, was der Mensch auf seinem geistlichen Weg als Widerstand erfährt. Hier ist Geduld, sorgfältige Prüfung und die Gabe der Unterscheidung notwendig. Es bedarf zudem einer großen Lauterkeit, um „Zeichen“ Gottes richtig zu deuten und nicht leichtfertig zu suchen.

Fundamentalismus

Gemeint ist ein buchstabengetreues, „wörtliches“ Verständnis der Bibel unter Ablehnung ihrer historischen Erforschung und der Auslegung durch die Kirche. Man muß aber darauf achten, was die Verfasser „wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“ (Konstitution über die Offenbarung 12). Eine anscheinend „wörtliche“ Auslegung kann den wahren Sinn verfehlen. Solchen Gefahren wird entgegengewirkt, wenn man bei der Bibelauslegung und Auswahl der Literatur darauf achtet, daß die Auslegung in das Ganze der Kirche eingebunden ist.

An diesem Maßstab sin aber auch die Thesen wissenschaftlicher Exegese zu prüfen. Das hilft zugleich, ein negatives „schlagwortartiges“ und pseudowissenschaftliches Reden von „Fundamentalismus“ abzuwehren. „Wer glaubt, daß Jesus Christus Kranke geheilt und Tote auferweckt hat, daß er ‚tatsächlich Wunder gewirkt hat und von den Toten auferweckt wurde, ist nicht etwa ein Fundamentalist.“42

Religiöse Selbstzufriedenheit

Wer seine Erfahrungen festhält und sie nicht immer wieder in Gottes größeres Geheimnis hinein losläßt, gerät in die Gefahr religiöser Selbstzufriedenheit und Selbstdarstellung. Das kann zu Eigenmächtigkeit und Mißbrauch von Geistesgaben führen, zu einem Absolutheitsanspruch und zum Ausüben eines Bekehrungsdrucks. Damit verbunden ist die Gefahr des Elitebewußtseins, die eine überhebliche Abgrenzung zu anderen Gemein-schaften mit sich bringt. Andererseits gibt es auch eine Unsicherheit, die sich zu schnell anpaßt und den göttlichen Anspruch nicht klar zu vertreten wagt. Eine Gefahr für den kirchlichen Leitungsdienst ist es, eine geistliche Erneuerungsbewegung zu rasch an vorgeformte Meinungen und Ideen „anzupassen“ oder sie wie ein „Programm“ zu „gebrauchen“, um eine Erneuerung nach eigenen Vorstellungen zu erreichen.

Flucht aus der Wirklichkeit

Schließlich sei erwähnt, daß die Kultivierung „religiösen“ Erlebens auch zu einer Getto-Mentalität führen kann, die beim Gefühl persönlicher Befriedigung stehen bleibt. Solche Menschen oder Gruppen kreisen dann nur um sich selbst und verschaffen sich eine „Oase“, statt sich aus dem Geist heraus dem Anspruch der Wirklichkeit zu stellen. Jesus Christus hat den Kampf gegen Sünde und Tod gekämpft und daher Leiden und Sterben auf sich genommen, im Vertrauen auf den, „der ihn aus dem Tod retten konnte“ (Hebr 5,7). Ein auf das Kreuz Jesu Christi Getaufter nimmt Leid und Schmerz als Teil der geschöpflichen und in Sünde verfangenen Wirklichkeit an. Er weiß, daß er wie Jesus für die Gerechtigkeit einstehen und mit ihm leiden muß. Darin zeigt sich das rechte Verhältnis zur Wirklichkeit, das ein wichtiges Kriterium für die Echtheit geistlichen Lebens ist.

Sogenannte „Offenheit“ für den Geist und seine Gaben kann den unbewußten Wunsch verdecken, Ausgleich für die Enttäuschungen des täglichen Lebens zu suchen. Hier liegt auch die Gefahr, unerkannte Konflikte vorschnell zu „überbeten“, statt aus dem Gebet heraus an ihrer Bewußtmachung zu arbeiten.

Jesus war nach der Taufe am Jordan und der Offenbarung des Geistes neuen Versuchungen ausgesetzt. Bei geistlichen Erfahrungen ist mit entsprechenden Gefahren zu rechnen; sie sind nur in der Kraft des Geistes zu bestehen. Ausgestaltung und Reifung aller Geistesgaben ist auf die Aufnahme und helfende Korrektur aller Glieder am Leib Christi angewiesen. Diese Integration erfordert die Dialogbereitschaft aller Beteiligten und ist Aufgabe der ganzen Kirche.