Antisemitismus und Christentum

Geschichte und Formen des Antisemitismus

Das Wort „Antisemitismus“ wurde erstmals durch den Journalisten Wilhelm Marr 1889 in seinem antisemitischen Pamphlet „Der Sieg des Jundenthums über das Germanenthum“ geprägt. Antisemitismus löste den religiös begründeten Hass auf Jüd_innen, den Antijudaismus ab. Jüd_innen wurden nicht mehr primär über ihre Religion definiert, sondern z. B. als „Rasse“, Volk oder Nation.

Christlicher Antijudaismus ist eine religiös motivierte Ablehnung von Jüd_innen. Das Zusammenwirken von christlicher Theologie und Jüd_innen-feindschaft brachte den Antijudaismus hervor, der sich im antiken und mittelalterlichen Europa verbreitete. Die traditionellen Stereotype des Antijudaismus fanden in angepasster Form und Funktion Eingang in den Antisemitismus.

Wie wird Antisemitismus definiert?

Eine einheitliche Definition von Antisemitismus ist aufgrund der Vielfältigkeit des Antisemitismus kaum möglich. Um jedoch eine gemeinsame Basis zur internationalen Bekämpfung des Antisemitismus zu haben, hat die Intenational Holocaust Remembrance Alliance im Mai 2016 eine Arbeitsdefinition verabschiedet, die von der Bundesregierung übernommen wurde:

        „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden (und Jüdinnen), die im Hass auf Juden (und Jüdinnen) Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische und nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.“

Antisemitismus ist also eine Sammelbezeichnung für Denkweisen, Einstellungen, Verhaltensweisen und daraus folgende soziale Strukturen, die bestimmte Merkmale aufweisen. So sind „die Juden“ in antisemitistischen Erzählungen immer als die grundlegend Anderen, die nicht zu der Wir-Gruppe, also der Dominanzgruppe gehören. Daher wird ihnen unterstellt, dass sie diese Wir-Gruppen, zu denen die Zugehörigkeit im antisemitischen Denken vorgegeben ist, bedrohen und „zersetzen“ würden. „Die Juden“ werden in der antisemitischen Weltsicht für alle als verunsichernd oder negativ empfundenen Umstände politischer, wirtschaftlicher und kultureller Modernisierungsprozesse verantwortlich gemacht: So wird „den Juden“ z. B. die Verantwortung für Wirtschafts- und Finanzkrisen, Globalisierung, Migration, die Auflösung eindeutiger Geschlechterrollen oder die Uneindeutigkeit nationaler Identitäten zugeschrieben. Daraus ergibt sich der Glaube an eine in Gut und Böse eingeteilte Welt, an das Wirken verborgener Mächte und an Verschwörungen als weitere Grundelemente des Antisemitismus. Dieser kann somit auch die Form einer umfassenden Welterklärung annehmen á la „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt“.

Da „die Juden“ in dieser Logik die Bedrohung des „Eigenen“ darstellen, sind dem Antisemitismus außerdem die Umkehr von Opfern und Täter_innen und die Diskriminierung – bis hin zur Vernichtung – von Menschen, die als Jüd_innen markiert werden, auf interaktionaler (zwischenmenschlicher Ebene), institutioneller (bspw. Gesetze) und gesellschaftlich-kultureller (bspw. Sprache) Ebene eingeschrieben. Durch die antisemitische Welterklärung werden die Opfer von Antisemitismus zu Täter_innen gemacht und umgekehrt. Die Täter_innen fühlen sich aus Notwehr berechtigt und entlasten sich so selbst von moralischer Schuld.

Neben dem eben dargestellten klassischen Antisemitismus existieren heute weitere Formen des Antisemitismus:

  •  Sekundärer Antisemitismus ist eine Form des Antisemitismus, die aus dem Holocaust hervorgeht. Nach 1945 war das Verhältnis zwischen Deutschen als Täter_innen und den Jüd_innen als Opfer des Holocaust davon bestimmt, wie die Deutschen sich der nationalsozialistischen Vergangenheit und der daraus entstandenen Verantwortung stellen. Das Gefühl der Scham und der Wunsch, nicht mehr an die eigenen Taten bzw. an die Taten der Vorfahren erinnert zu werden, führten zu einer Schuld- oder Verantwortungsabwehr. Der sekundäre Antisemitismus ist ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen des Holocaust. Er steht in engem Zusammenhang zum deutschen Nationalismus nach 1945: Obwohl Nationalismus als diskreditiert galt, existiert in einer nationalstaatlich geformten Welt immer noch das Bedürfnis, sich mit „der eigenen Nation“ zu identifizieren. Um aber eine positive Identifikation und ein positives Selbstbild aufrechterhalten zu können, muss die „Nation“ von Schuld oder Verantwortung entlastet werden. Jüd_innen werden dann als Störfaktor empfunden, weil sie durch ihre bloße Anwesenheit an die NS-Vergangenheit und den Holocaust erinnern.

Beispiel: Hierzulande stellen Menschen die Forderung, doch endlich mal einen Schlussstrich unter den Holocaust zu ziehen. Man selbst habe ja damit nichts mehr zu tun und müsse doch auch stolz auf Deutschland sein können wie eine ganz normale Nation.

  • Antiisraelischer Antisemitismus lehnt das Existenzrecht Israels ab und damit die gesicherte Zufluchtsstätte für Jüd_innen. In der Konsequenz mündet eine solche Negierung des Existenzrechts in der Verfolgung von Jüd_innen. Zudem findet sich beim antiisraelischen Antisemitismus eine Täter_innen-Opfer-Umkehr als eine Entschuldungsstrategie. So wird israelische Politik mit der nationalsozialistischen Politik gleichgesetzt. Dadurch findet eine Rechtfertigung oder Verharmlosung der nationalsozialistischen Gräueltaten statt.

Kritik am Staat Israel ist jedoch nicht per se antisemitisch. Das führt zwangsläufig zu der Frage, welche Kriterien es dafür geben mag. Eine Kritik am Staat Israel oder an der israelischen Politik oder Regierung gilt dann als antisemitisch, wenn sie
das Existenzrecht Israels und das Recht auf Selbstverteidigung aberkennt,

- antisemitische Stereotype auf den Staat Israel überträgt,

- Israels Politik mit der Jüd_innenverfolgung Nazi-Deutschlands vergleicht oder

-  israelische Politik mit einem doppelten Standard, also nach anderen Kriterien als die Politik anderer Staaten, beurteilt.

Die Aussage „Was Israel mit den Palästinensern macht, ist genauso schlimm wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben.“ ist ein Beispiel für Antisemitismus.

Muslimischer Antisemitismus

Während die Bezeichnung „muslimischer Antisemitismus“ einen direkten Ursachenzusammenhang zwischen Islam und Antisemitismus unterstellt, fehlt es tatsächlich an einer eigenständigen Entwicklung von Antisemitismus in islamisch geprägten Gesellschaften für diesen vermeintlichen Ursachenzusammenhang. Die Situation der dortigen Jüd_innen war im Verlauf der Geschichte weder durch ständige Unterdrückung noch durch vollständige Harmonie geprägt. Es gab allerdings kaum antisemitische Bilder, die denjenigen in Europa entsprochen hätten. Dies änderte sich, als es seit dem 19. Jahrhundert im Zuge des Kolonialismus zu einem „Export“ des europäischen Antisemitismus kam.

Die Verbreitung des europäischen Antisemitismus erfolgte schließlich im 20. Jahrhundert durch aktive antisemitische Propaganda aus Europa, z. B. durch die Nationalsozialist_innen, durch den sich zuspitzenden Palästinakonflikt, die Ausbreitung eines arabischen Nationalismus, die Gründung des Staates Israel sowie durch politische und gesellschaftliche Veränderungen in den arabischen Staaten.

Heute lässt sich in Deutschland zwar bei Geflüchteten aus islamisch geprägten Ländern aufgrund ihrer Sozialisation und staatlicher Propaganda ein erhöhtes Maß an antisemitischen Einstellungen feststellen. Jedoch lässt sich dieses Bild nicht pauschal auf alle Geflüchteten aus arabischen Ländern übertragen. Denn es bestehen starke Unterschiede je nach Herkunfts-region, Sozialisation und der Identifikation mit nationalen, religiösen oder ethnisierten Kollektiven. Das geäußerte antisemitische Wissen ist zudem widersprüchlich. Ein ähnliches Bild zeichnen Befunde über deutsche Jugendliche aus muslimischen Kontexten. Wenn sie antisemitische Aussagen unter Rückgriff auf den Islam begründen, sind ihre Bezüge meistens entweder vage und ohne theologische Grundlage oder schlichtweg sachlich falsch.

Die Bezeichnung muslimisierter Antisemitismus bezieht sich daher zwar auf antisemitische Vorstellungen, die in islamisch geprägten Gesellschaften und Kontexten anzutreffen sind. Die Bezeichnung berücksichtigt, dass solche Vorstellungen nicht losgelöst vom europäischen Antisemitismus betrachtet werden können, sondern diesem entweder entsprungen sind, parallele Strukturmerkmale (siehe Definition) aufweisen oder durch aktiven Rückgriff auf europäische Vorbilder entstanden sind. Darüber hinaus ist der Begriff auch nützlich, um sich kritisch von der verbreiteten antimuslimisch rassistischen Annahme abzusetzen, dass Antisemitismus von muslimisch markierten Menschen oder in islamisch geprägten Gesellschaften ursächlich aus den religiösen Überlieferungen des Islam folge – was übrigens eine Lesart ist, die mit derjenigen radikaler Islamist_innen übereinstimmt.

Antisemitismus ohne Jüd:innen

„Wenn es keine Juden gäbe, der Antisemit würde sie erfinden.“ (Jean-Paul Sartre)

Wichtig ist zu beachten, dass der Antisemitismus nichts mit dem Verhalten oder Handeln von tatsächlichen Jüd_innen zu tun haben muss. Denn Antisemitismus ist eine Projektion: Antisemitische Bilder und Vorstellungen werden auf Menschen, die als jüdisch markiert werden, und jüdische Einrichtungen projiziert, um eine überkomplexe Welt und die eigene Ohnmacht angesichts anonymer sozialer Prozesse zu erklären. Daher sagt Antisemitismus nur etwas über diejenigen aus, die antisemitisch denken und handeln, aber nicht über Menschen, die sich als Jüd_innen definieren. Über sie lassen sich – wie über jede andere Gruppe von Menschen – keine allgemeinen Urteile fällen.

Um die Ursachen von Antisemitismus zu verstehen, ist deswegen stets zu fragen:

  • Welche gesellschaftlichen Entwicklungen und Umstände lassen es für Menschen attraktiv erscheinen, sich ihre Welt antisemitisch zu erklären?
  • Welche Funktionen erfüllen die antisemitischen Bilder für die jeweiligen Verfechter_innen und für die Gesellschaft, in der sie leben?
  • Von welchen realen sozialen Konflikten lenken antisemitische Zuschreibungen ab?

(Quelle: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), Düsseldorf 2018)